„Let this be a lesson to you: all your brains are not located inside your cranium.”
(Aus: “My voice will go with you- the teaching tales of Milton H. Erickson, S. 95).
Vieles geschieht einfach im Hintergrund. Während des bewussten Lesens dieses Satzes schlägt das
Herz einige Male, es geschehen wie von selbst zwei Atemzüge, eine Fülle von Botenstoffen wird ganz
nebenbei freigesetzt und die Augenlider blinzeln vielleicht mehrmals, während sich der Darm leise
bewegt.
1987 in Manchester: Peter Whorwell, ein Arzt, der sich mit therapieresistenten Reizdarmsyndrom-
PatientInnen beschäftigte, schritt durch einen spärlich beleuchteten Raum. Er sprach leise einige
Suggestionen zu liegenden PatientInnen- die Idee der Bauchhypnose oder „gut directed hypnosis“
war geboren. Whorwell führte erstmals Hypnose-Gruppentherapien mit erstaunlichen Ergebnissen
durch: PatientInnen mit schwer ausgeprägtem Reizdarmsyndrom remittierten, selbst nach 18
Monaten blieben die PatientInnen symptomfrei. Dies war der erste Schritt in Richtung einer
psychosomatischen Therapieform, die heute als Schulmedizin gilt- aber dazu später mehr.
Wie funktioniert es nun, dass etwas scheinbar nicht fassbares wie Hypnose Veränderungen im Körper
auslöst und Symptome von ReizdarmpatientInnen mindert? Wie wirkt das Gehirn auf den Darm?
Viele klinische Phänomene, die wir als psychosomatische Reaktionen oder somatoforme Krankheiten
bezeichnet haben, können heute basierend auf den Fortschritten in der Grundlagenforschung besser
erklärt werden. Die sogenannte Neuro-Gastroenterologie beschäftigt sich mit den Zusammenhängen
zwischen unserem Bewussten und dem Unbewussten- namentlich mit einer gewissen Achse
zwischen Gehirn und Körper, der sogenannten Darm-Gehirn-Achse (Gut-Brain-Axis). Das enterische
Nervensystem beherbergt 100 Millionen Nervenzellen (das ist mehr als das Rückenmark oder das
periphere Nervensystem). Es steht damit in ständigem Austausch mit den Darmbakterien
(Mikrobiota) und beeinflusst über den Nervus Vagus (den 10 Hirnnnerv, der das Gehirn mit dem Körper verbindet), das Immunsystem und Botenstoffen das
Gehirn. Ich weiß nicht, ob du gewusst hast, dass Bakterien über gewisse Stoffe sogar die
Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke beeinflussen können! Der Darm ist somit ein unbewusstes
System, mit weitreichenden neurophysiologischen Auswirkungen.
Wie ist das nun mit den Darmbakterien? Und wie beeinflussen Sie unser Gehirn und unsere
Empfindungen?
„… Ich stelle die These auf, das in demselben Individuum mehrere Gruppierungen möglich sind, die
ziemlich unabhängig voneinander bleiben können, voneinander „nichts wissen“, und die Kontrolle
alternierend an sich reißen.“ (S. Freud- Über Psychoanalyse, Fünf Vorlesungen)
Hätte sich Sigmund Freud mit Darmbakterien beschäftigt, wäre seine oben genannte These heute
wirklich bestätigt: Studien haben gezeigt, dass Darmbakterien sehr wirksam über die Darm-Gehirn-
Achse in den Neurotransmitterhaushalt eingreifen, Gefühle verändern, das Körpergewicht
beeinflussen und uns auch, durch die Produktion von GABA in der Nacht, in einen angenehmen,
schläfrigen Zustand versetzen können. Und bei dieser Masse von bakteriellen Spezies erscheint dies
gar nicht erstaunlich: Allein im Darm bevölkern uns rund 10 hoch -10 hoch 14 Mikroorganismen. Das genetische Material, welches Bakterien (Mikrobiota) in sich tragen, wird als „Mikrobiom“ bezeichnet.
Aus genetischer Sicht ist also ein Mensch deines Alters, welcher vielleicht auch gerade diesen Artikel
liest, streng genommen gar nicht so menschlich. Wir bestehen zu ungefähr 95% aus bakteriellem
Ergbut, und nur 5% humane DNA machen uns aus. Wenn also ein Patient zu mir in die psychiatrische
Praxis kommt, behandle ich in erster Linie eine wandelnde Bakterienkolonie. Und das ist auch
deshalb interessant, da viele Psychopharmaka im Darm antibiotisch wirken und so das Mikrobiom
psychopharmakologisch oft „unbewusst“ mitbehandelt wird!
Psychische Erkrankungen sind wie chronische Darmerkrankungen manchmal durch etwas
Traumatisches ausgelöst- sei es ein zwischenmenschlicher Verlust oder Konflikt oder eine
Tropeninfektion- der Magen- Darm-Trakt ist lernfähig und konditionierbar- ins Negative wie auch ins
Positive. Und hier können hypnotische Techniken, d ihre
Wirkung entfalten. Die Darm-Gehirn-Achse ist ein wechselseitiges System. Der Darm kann also mit
dem Gehirn, das Gehirn aber auch mit dem Darm kommunizieren.
„Heilende Botenstoffe fließen dorthin, wo der Körper sie braucht.“
(Ausschnitt aus einem Protokoll zur Bauchhypnose)
Peter Whorwell in Manchester war verblüfft von seinen Ergebnissen und veröffentlichte die
Methode der „gut-directed-hypnosis“ nach dem „Manchester Protokoll“. Seine Sitzungen dauerten
30-60 Minuten, mit einer Sitzung pro Woche über 3 Monate. Insgesamt waren sieben bis zwölf
Sitzungen notwendig. Zusätzlich lernten die PatientInnen die sehr wirksame Methode der
Autosuggestion, welche sie täglich übten. Heute ist die Bauchhypnose ein anerkanntes Verfahren der
Schulmedizin und trägt den Evidenzgrad A der S3 Leitlinie Reizdarmsyndrom, da die Wirksamkeit
ausreichend durch Studien untermauert wird.
Somit entdecken wir ein großartiges therapeutisches Potential, wenn wir bemerken, wie Wörter
wirksam werden. Durch spezielle Hypnoseverfahren können wir die Therapie von psychosomatischen
Erkrankungen sinnvoll und schulmedizinisch ergänzen.
Und so wird es offensichtlich, was bereits vor tausenden von Jahren postuliert wurde: „Der Geist
bewegt die Materie“ (Vergil, Aeneis 6, 727)-Denn Vieles geschieht einfach im Hintergrund. Während
des bewussten Lesens dieses Satzes wird vielleicht gerade bei einer Person deines Alters eine Fülle
von heilenden Botenstoffen freigesetzt und die Augenlider blinzeln vielleicht mehrmals, während sich
der Darm leise bewegt.
Verfasserin:
Priv. Doz. DDr. Sabrina Mörkl
Nutripsy Praxis Graz
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